Wernerfeelings

KUNSTKRITIKEN

Dr. Peter Schütt
Anna Werner ist eine geborene Brückenbauerin, eine Grenzgängerin, eine Seiltänzerin zwischen Morgen- und Abendland, zwischen Mittelasien und Mitteleuropa, aber auch zwischen Kunst und Natur, zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und spontaner Eingebung , zwischen realistischer und abstrakter Malerei.

Geboren wurde die Künstlerin – man glaubt es kaum, wenn man ihren urdeutsch klingenden Namen hört – 1980 im ferner Kirgisien, im kleinen Ort Kant nahe der Hauptstadt Bischkek.
Sie wurde hineingeboren in eine streng-gläubige deutschstämmige Familie, deren Vorfahren vor mehr als zweihundert Jahren unter Katharina der Großen in den Süden Russland ausgewandert und später nicht zuletzt aus Furcht vor Verfolgung weiter bis nach Mittelasien gezogen sind.
Dort hat sie ihre Kindheit verbracht – in enger Nachbarschaft zu den kirgisischen, kasachischen und russischen Dorfbewohnern.
Als Kind verliebte sich Anna Werner in die hohen Berge des Tien Shan, in die rauschenden Gebirgsbäche und –flüsse und die tiefgrünen Täler Kirgisiens, denen der größte Dichter Kirgistans, Tschingis Aitmatow, in seinen Erzählungen und Romanen ein bleibenden Denkmal gesetzt hat.

Anna Werner nahm diese Liebe mit, als sie 1988 mit ihrer Familie nach Deutschland, in das Land ihrer Vorfahren, zurückkehrte. Deutschland war für sie zunächst eine fremde Welt. Im gleichen Jahr kam auf tragische Weise durch ein Unfall, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder ums Leben. Um den Verlust des Bruders und der Heimat zu verarbeiten und ihren Gefühlen freie Bahn zu lassen, begann sie schon damals zu malen und zu schreiben.
Aber bis zu ihrer künstlerischen Berufung war es noch ein langer Weg. Anna Werner ist keine geborene Künstlerin, sondern eine erst auf einem langen Erkenntnisweg in die Kunst hineingewachsene Malerin.
Sie wuchs in Ulm auf und besuchte dort zunächst die Grundschule, dann die Albert-Einstein-Realschule und schließlich das Abendgymnasium, das sie mit der Fachhochschulreife abschloss. Sie leistete ein „Freiwilliges Soziales Jahr“ in einem Reha-Krankenhaus und wurde dann im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm zur Krankenschwester ausgebildet.

Aber der Erkenntnis- und Forscherdrang trieb Anna Werner weiter. Sie stürzte sich in die Wissenschaft und studierte von 2014 bis 2018 an der Hochschule Anhalt in Bernburg in Sachsen-Anhalt Naturschutz und Landschaftsplanung.
Sie arbeitete während des Studiums als wissenschaftliche Hilfskraft an der Hochschulbibliothek in Bernburg, war an verschiedenen wissenschaftlichen Projekten zum Umwelt- und Naturschutz beteiligt und hat den Bachelor of Science abgeschlossen und den Master in der Halbzeit beendet.
Von 2018 bis 2020 war sie am Landratsamt im bayerischen Kreis Straubing als Fachreferentin für Naturschutz und Landschaftspflege angestellt.
Zugleich übernahm die nimmermüde Ökologin verschiedene ehrenamtliche Aufgaben. Sie half, das Waldgebiet um Ulm, Wiblingen und Böflingen vom Müll zu reinigen, war an der floristischen Kartierung im Raum Ulm beteiligt und arbeitete mit dem Staatlichen Museum für Natur-kunde in Stuttgart zusammen.

Doch trotz aller Einsatz- und Opferbereitschaft: alle diese kraft- und zeitraubenden Aktivitäten waren für Anna Wener nur Zwischenstationen auf dem Weg zu ihrer Berufung als Künstlerin. Neben ihrem Studium und ihrem Beruf hat sie bei jeder Gelegenheit und sei es nachts ihren Pinsel in die Hand genommen und so nach und nach ihren eigenen Stil in der abstrakten Acrylmalerei entwickelt.
„Er ist“, berichtet sie, „eng mit der Natur verknüpft und entspringt einem meditativen, intuitiven Zustand. Ich sehe die alles durchdringende, schöpferische Energie, die sich uns durch die Natur begreiflich machen möchte. Man kann sie im Rauschen des Wassers oder Flüstern des Windes hören. Oder man sieht sie in den geometrischen Wuchsformen der materiellen Welt. Wenn ich male, bin ich eins mit dieser Energie und bringe sie auf die Leinwand, damit sie für andere fühlbar wird.“ Im Corona-Jahr 2020 war es endlich so weit. Anna Werner erklärte sich zur „freiberuflichen Künstlerin“.

Anna Werners Bilder haben es in sich. Sie ziehen ihre Betrachter gleich nach dem ersten Blickkontakt magisch an und lassen ihn nicht mehr los. Sie sind voller Geheimnisse. Sie lenken den Blick nach innen, in das Innere des eigenen Herzens, aber auch in den „Weltinnenraum“, in das, was die Welt – so Goethe – im Innersten zusammenhält: den verborgenen Bauplan der Schöpfung, der jedem Geschöpf, gleich welcher Natur, ob Mensch, Tier oder Pflanze, ob Staub oder Stein, ob Erde oder Himmel, seinen Platz im kosmischen Gefüge gibt.
Diese inneren Zusammenhänge lassen sich nicht realistisch darstellen, sondern nur abstrakt, surreal oder symbolistisch, in Form von Zeichen oder geometrischen Mustern.
Anna Werner bezeichnet ihr künstlerisches Verfahren als „abstrakten Pointillismus“. Dafür steht beispielhaft ihr lebhaft leuchtendes Meisterwerk „Das Auge des Zyklopen“. Es ist nicht wie andere Arbeiten innerhalb von Stunden oder Tagen entstanden, sondern über Monate hinweg.
Dank fortwährender neuer Einfälle und Eingebungen ist eine Komposition aus Tausenden von Farbtupfern und –punkten entstanden, die sich in unendlicher Drehung umtanzen, zerfallen und wieder neu zusammenfügen. Anna Werners Werke sind bewegte und bewegende Bilder. Sie kann auf meisterhafte Weise Bewegung sichtbar und fühlbar machen, die sich dem Betrachter mitteilt und sich auf ihn überträgt.
Ihr intuitiver Malprozess bringt immer wieder überraschende Wendungen hervor, er folgt keinem Schema und keiner Routine, sondern vollzieht sich von Mal zu Mal neu und einzigartig. Ihre Schaffenskraft kommt aus der Schatztruhe ihres Herzens und wurzelt in ihrer innigen Verbundenheit mit der Natur und dem Kosmos.
„ Verbunden“ nennt sie mit gutem Grund eine pointilistische Zusammenfügung, in der die Umrisse einer Landkarte, Wassertropfen, in denen sich die Erdkugel zu spiegeln scheint, und Traumbilder ineinander verfließen. Es geht der Künstlerin um „eine tiefere Dimension des Daseins“, die sie in ihren Werken aufscheinen lassen möchte, „eine Energie, die den Betrachter dazu animieren soll, seine eigene Verbundenheit zu spüren“, seine Bindungen zu den eigenen Wurzeln, zur Natur und zum Kosmos der allumfassenden Schöpfung.
Ihre Lieblingsfarben sind zugleich symbolträchtig. Grün ist die Hoffnung, auch im ökologischen Sinne, und Blau ist die Farbe des Himmels, des Meeres und der blauen Blume der romantischen Phantasie.
Auf ihrem wunderschönen Phantasiebild „Meeresgrund“ fügt sie ihren Grundfarben noch einige Tupfer Gold hinzu, als Zeichen für den Glanz, der aus dem Licht eines liebenden Herzens aufleuchtet. Auf dem „Meeresgrund“ erkennt der Betrachter geometrische Strukturen, wie sie auch bei Muscheln, Krebsen oder Schnecken zu finden sind. Solche Muster sind in der Natur weit verbreitet. Sie werden „Fraktale“ genannt. Sie finden sich im Allerkleinsten in der Zellstruktur unter dem Mikroskop oder im Allergrößten wie der Anordnung der Planeten. Für Anna Werner sind diese natürlichen Merkmale Zeichen dafür, dass die ganze Natur selbst ein einziges wundersames Kunstwerk ist.
Natur und Kunst sind für sie keine Gegensätze, sie ergänzen und durchdringen sich gegenseitig. Die Natur ist ihre Lehrmeisterin – auch in ihrer Malweise. Ihre Besonderheit ist das akribische, gleichsam der Natur abgeschaute Ausarbeiten der Details. Ihre Verwendung winziger Punkte und Linien erfordert sehr viel Ausdauer, Feinarbeit und Geduld. Ihre Hingabe und ihre Detailversessenheit verleihen ihren Werken eine besondere Aura.
Ihre Gemälde vereinen in sich höchste Sensibilität und äußerste Präzision. Sie suchen in der Kunst der Gegenwart ihresgleichen.
Ihre eigenwilligen Kompositionen sind allesamt eine Augenweide, sie öffnen schon durch ihren bloßen Anblick mit der Fülle und mit der Frische ihrer Farben und der üppig wuchernden Vielfalt ihrer abstrakten Figurationen die Augen und das Herz und können dank ihrer zeichenhaften und universal verständlichen Bildsprache Brücken zwischen den Menschen in verschiedenen Kulturen und Kontinenten bauen.